Bela Sathelynagy
hygienefalle
hoerer.
"wer
viel und lange in öffentlichen telefonzellen spricht, gefährdet seine
gesundheit. wer viel und lange radio hört, auch."
bela
sathelynagy, institutsvorstand am institut für medicomediatik der
universität szeged*, entwirft in seinem buch "hygienefalle
hörer" einen wissenschaftlichen crossover zwischen medizin,
psychologie und sozialwissenschaft, die medicomediatik.
gemeinsam mit klausrezzo klöppke vom hasso-horch-institut in laufen (BRD)
ist er der vorreiter dieser ganzheitlichen betrachtung der informationsgesellschaft,
der kein detail zu gering und kein zusammenhang zu groß sein kann.
im folgenden
lesen sie auszüge aus sathelynagys buch "hygienefalle hörer".
sathelynagy und klöppke können sie auch im maschek.cirquel
vom 7. 6. 1999 zum thema "retro - schicker anachronismus oder postmoderner
kokolores?" sehen.
[ die
informationshydra ]
wenn ich
den telefonhörer in einer öffentlichen telefonzelle in die hand nehme,
dann nehme ich nicht nur ein outlet der informationsgesellschaft in die
hand, sondern auch einen wirten von bakterien, eine keimzelle von krankheiten.
ich habe keine ahnung, was vorher in der telefonzelle passiert ist, ich
setze mich dieser zufälligkeit aus und nehme teil an der physischen präsenz
meiner mitbewohner in der informationsgesellschaft.
doch nicht
nur bakterien, keime und sputum - über hautkontakt und atemluft aufgenommen
- können die gesundheit beeinträchtigen, sondern auch das gesprochene
und gehörte wort - die contentebene - wird zu einem wesentlichen
faktor meiner befindlichkeit nach verlassen der telefonzelle. was ich
spreche und vor allem höre, hat psychosoziale wirkungen, kann stimmungen
verursachen, auf mein vegetatives nervensystem einwirken und im extremfall
neurosen hervorrufen.
im
ausgehenden millénaire lauern die gefahren allerorten, sich durch die
oder bei der aufnahme von information zu beschmutzen oder zu infizieren.
depression durch elektrosmog, prostatakrebs durch radarfallen, konzentrationsschwäche
als folge des vielmobiltelefonierens sind alte hüte, klausrezzo klöppke
sieht in ihnen vielfach das geringere übel: "besser am handy ermüden
oder sich in der telefonzelle 'was wegholen, als durch redundantes informationsrauschen
seine persönliche integrität zerstören." obige zusammenhänge
sind viel zu singulär, in der medicomediatik geht es um den großen zusammenhang.
sie will weder konservieren noch kontrollierend eingreifen, sondern der
medizin und sozialwissenschaft neue aufklärerische instrumente in die
hand geben. sonst laufen wir gefahr, uns künftig massiven informationsallergien
und sogar epidemien durch grassierende defekte informationspartikel ausgesetzt
zu sehen.
die informationsgesellschaft
ist ein symbiotisches wesen aus individuen. sie ist eine eigenständige
virtuelle struktur, an deren outlets überall gegenständliche substanz
steht, sowieso in tertiären und sekundären, aber auch in primären medien.
selbst das denken und sprechen hat gegenständliche substanz und ist ein
[bio]technisches instrument.
"die
versicherung der substanzhaftigkeit erlaubt es deleuze und guattari aufzuzeigen,
dass die voraussetzung, dass denken und wahrnehmung immer real und äusserlich
ist, sogar für die phantasie zutrifft: wenn eine phantasie substanz hat,
ist sie ein körper, und ihr verständnis durch einen anderen denkenden
körper [thought-body] ist so real wie die wahrnehmung eines objekts
oder eines körpers mit umfang [extension] (denken und wahrnehmen
haben nur 'intension', oder 'virtual reality'; sie sind real, aber nicht
objektiv)" [brian massumi, "a users guide to capitalism
and schizophrenia", massachusetts, 1992, s. 157]
klöppke
definiert in seiner "medicomatic charta" drei wesentliche prämissen
unserer disziplin: "1. information hat körper. 2. es kann keine
information ohne körper geben. 3. virtualität kann immer nur strukturell
herrschen, niemals singulär."
das denken
kann niemals virtuell sein, aber auch der content im telefon, im radio
oder im internet hat immer körper, auch wenn er sich bloß als magnetischer
speicher einer festplatte, als der eine cd abtastende laserstrahl oder
als die mikrowellen bei einer satellitenübertragung manifestiert. virtualität
generiert sich erst aus den zusammenhängen zwischen informationskörpern.
ein beispiel
dafür ist das funktionieren von publikumsgeschmack in mainstream-radiosendern.
wir haben verschiedene formate geschaffen, basierend auf den kategorienschemata
der frühen 60erjahre. wir haben die gesellschaft eingeteilt, nach den
variablen der gesellschaftlichen und staatlichen position [wie bildung,
einkommen und präferierter haushaltsorganisation], und nun verkaufen wir
sie in paketen zum tausenderkontaktpreis an die [werbe]wirtschaft.
vergleichen
wir die contents im radio, egal ob nachrichten oder musik. woher kommt
die musik? sie entspricht dem geschmack der hörer, durch meinungsumfragen,
telefonische wunschmöglichkeiten oder plattenverkaufszahlen gemessen.
doch welche musik kaufen die leute, welche musik wünschen sie sich im
radio? immer das, was sie aus dem radio kennen und mögen. es entsteht
das problem der ranking redudancy: der hörer rezipiert seinen geschmack
in jedweder lage seiner gesellschaftlichen präsenz aus einem selbstreferenziellen
system, das schließlich zu einer tautologie versteinert.
dieser strukturelle
zusammenhang erhebt sich dadurch zu echter virtualität. er - immer schon
potentiell vorhanden, aber bis dato nicht aktiviert - entfaltet seine
vollständige virtus, entweicht aus der substantialität, wird nunmehr
zum vielköpfigen geist, den ich rief.
"wenn
nietzsche davon spricht, dass die auswahl sich am häufigsten zugunsten
der großen zahl auswirke, so formuliert er darin einen einfall, der das
moderne denken grundlegend inspirieren wird. denn er will damit sagen,
dass die großen zahlen oder großeinheiten nicht etwa vor dem selektionsdruck
bestehen, der dann ihre singulären linien aufzeigen würde, sondern dass
sie allererst im verlauf dieses selektionsdrucks entstehen, der die singularitäten
niederwalzt, eliminiert oder reguliert. nicht die selektion setzt eine
erste massenhaftigkeit, sondern diese setzt, darin entstehend, jene voraus."
[gilles deleuze / félix guattari: anti-ödipus. kapitalismus und schizophrenie,
band 1, frankfurt am main 1977, paris 1972. s. 44]
den konsumenten
zum passiven und zu selbständiger interaktion nicht fähigen con total
erklärt zu haben, der seinen geschmack nur noch aus den informationshydren
generiert, die den common sense wiederzugeben vorgeben, wird sich bald
als fatal error der 90er jahre herauskristallisieren.
das selbstreferenzielle
angebotsdiktat wird nämlich solange ein more of the same in allen
medien produzieren, bis eine durchdringung des marktes mit spezifischen
inhalten nicht mehr möglich ist. das verbleibende flussmonster kontrolliert
alles und jeden.
"die
gesamte information, die fortwährende aktivität der medien, die massenhaften
botschaften wollen nur die tödliche verseuchung, um die massen kontrollieren
zu können." [jean baudrillard: kool killer oder der aufstand
der zeichen. berlin, 1978.]
die
verselbständigung von redundanter information ist von keinem mehr kontrollierbar,
auch nicht von seinem urheber. irgendwann verlässt der hörer taub die
telefonzelle.
[ wege
aus der hygienefalle ]
"let
them eat dirt", titelte ein großes amerikanisches nachrichtenmagazin
jüngst, um auf die notwendigkeit hinzuweisen, kinder nicht durch allzu
große sterilität im alltag einen strich durch die entwicklung ihres immunsystems
zu machen. gemeint war primär dreck à la erde, staub und tierhaare, der
- in maßen genossen - spätere allergien vermeiden hilft. natürlich gilt
diese these auch in der medicomediatik. kontakt mit telefonhörern
in fremden wohnungen, mit dem controller am videospiel eines freundes
oder dem geteilten kopfhörer im schulbus sollte den heranwachsenden nicht
verboten werden, weder aus medizinischer noch aus soziokultureller sicht.
doch wer im kindesalter nicht lernt, das angebotsdiktat zu durchbrechen
und den eigenbedarf zur prämisse zu machen, gerät allzu schnell in die
fänge der informationshydra.
hier läge
der angelpunkt, um den großen zusammenhang aufzubrechen und lösungsmodelle
zu entwickeln. nur das aufklärerische erschaffen eines neuen, suprastrukturalen
zusammenhangssystems, das punktuell von einzelindividuen immer wieder
neu definiert werden kann und deren schnittpunkte sich genausoschnell
verweben wie auflösen können, birgt die chance einer emanzipatorischen
gesellschaft im nächsten jahrhundert. klöppke: "redundante rankings
sind ein rauschen, und sie können nur durch anderes rauschen ersetzt werden."
es nützt
uns kein kennzeichnungssystem und keine auferlegte selbstkontrolle, keine
zeigefingerschwingende belehrung durch jene instanzen, die im bett liegen
mit den trägern der informationstechnologie. aufklärung heisst nicht,
den fallout zu destillieren, sondern alternative systeme zu bauen.
wenn der
staat im gefolge der etablierten wissenschaft zulange mit den alten schemata
an die neuen problematiken herangeht, wird er nicht mehr eingreifen können,
weil sich zu viele virtuelle systeme gebildet haben.
elek tulenow,
retrosoziologe an der zentraluniversität datovpol, fordert in seinem essay
"aufruf zum informationsputsch" daher die säkularisierung
zwischen daten und staat. den aufruf zum putsch meint tulenow ironisch,
er postuliert das genaue gegenteil: die organizität des systems, die es
ausschliesst, durch putsch oder revolution geändert zu werden.
wie kann
der einzelne der immer größeren verselbständigung der kybernetischen zusammenhänge
zwischen den informationsoutlets und der verschmutzung derselben entgegenwirken?
nur durch wachsamkeit und - mitunter - enthaltsamkeit gegenüber den versuchungen
der hydra.
die größere
falle für unsere gesellschaft ist der unmündige radiohörer als der verschmutzte
telefonhörer. er ist produzent von redundanter information und potentieller
aussender von virtuellen bakterien, die sich auf der körperlichkeit der
information absetzen können, diese modulieren und zu uns zurückwerfen.
ihm ist zu helfen, damit uns geholfen werden kann.
*)
prof. sathelynagy war zum zeitpunkt des entstehens dieses buches gastprofessor
an der zentraluniversität datovpol und am instituto vittorio veneto in
bologna.
[dieser
artikel erschien in "monochrom
#11-14einhalb. ein ontologisches sanierungsportfolio". wien 2000.]
[das buch "hygienefalle hörer", erschienen bei egeszeg
budapest, ist leider vergriffen. hier
das cover.]
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